Wer in den ersten Wochen der Kontakt- oder (wie in Berlin und Bayern) Ausgangsbeschränkungen absolute Ruhe in einer Stadt suchte, fand sie vor allem in den Stadtmitten. Ohne Menschen auf Einkaufstour, ohne Bürobewohner und ohne Touristen wurden diese zu Oasen der Ruhe. Die Städte waren auf den Kopf gestellt. Nicht nur der Arbeitsplatz und viele Shops waren für die Massen unerreichbar, auch die erweiterten Wohnzimmer der Großstadtmenschen – die Cafés, die Bars, der Stamm-Italiener oder der Park im Viertel – wurden geschlossen.

Aus Shoppen wurde die Notwendigkeit Lebensmittel einzukaufen. Die Menschen beschränkten sich auf das Nötigste, aber davon unnötig viel: Supermärkte, Bioläden und vielerorts auch Wochenmärkte wurden überrannt und hatten wochenlang Weihnachtsumsätze. Alles über diese Versorgungseinkäufe hinaus wurde vermieden: Die Pandemie machte Einkaufen zum Stress, ein Einkaufserlebnis im klassischen Sinn war nicht gefragt. Hofläden, Weltläden, Märkte mit Genuss- und Bummelfaktor wurden gemieden.

Die Restaurants mussten Ende März schließen und konnten erst Mitte Mai unter Auflagen wieder öffnen. Der Überlebenskampf sorgte bei vielen Restaurants für Kreativität im Entwickeln neuer Geschäftsmodelle: Lieferservices von Sternerestaurants, Boxen zum Nachkochen der Restaurantrezepte, neue Take-away-Ideen. Während bereits vorher angeschlagene Restaurantketten relativ schnell in die Insolvenz gingen, wird sich in der Gesamtheit der Gastronomie erst nach und nach zeigen, wie sie die Verbote und die nachfolgenden starken Einschränkungen wirtschaftlich überstehen wird.

Lebensmittel und Corona
Warten bis man dran ist.

Der Stolz jeder Region auf ihren Spargel hielt auch während Corona an. Nicht nur, dass dies keine regionaltypischen Sorten mehr sind, sondern holländische Hybrid-Züchtungen deutschlandweit Marktführer auf den Feldern sind, in diesem Jahr fehlten auch die rumänischen Landarbeiter für dessen Ernte. So schwappten aus der Landwirtschaft Nachrichten über Arbeitskräftemangel in die Städte. Die Politik wandte die drohende Katastrophe einer Spargelknappheit ab, indem sie das Einfliegen 10.000er Erntehelfer erlaubte. Was in der Ernte noch funktionierte, wuchs sich einen Monat später in der Fleischindustrie zur Katastrophe aus: Hunderte (unterbezahlte ausländische) Arbeiter in Schlachthöfen infizierten sich mit Corona, besonders die prekären Wohnsituationen in Sammelunterkünften scheinen Virenbrutstätten zu sein. Der Schriftsteller Sasa Stanisic kommentierte auf Twitter: „Erst Spargel, jetzt Fleisch. Es ist als würde der Virus phosphoreszierend die moderne Sklaverei zum Leuchten bringen.“

Corona und die Lebensmittelversorgung

Die Corona-Krise hat die Funktionsfähigkeit unserer Lebensmittelversorgung nicht eingeschränkt: Es gab (bis Ende März) leere Regale bei bestimmten Produkten, (ab Anfang April) erhöhte Preise besonders bei Obst und Gemüse. Aber das Ernährungssystem war robust und flexibel genug, um auf den durch die Pandemie ausgelösten Stress zu reagieren. Doch für die meisten in Deutschland lebenden Menschen dürfte die Erfahrung neu gewesen sein, sich Gedanken über das Funktionieren der Lebensmittelversorgung machen zu müssen. In der Vergangenheit wirkten die Vorschläge des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz zur Bevorratung von Lebensmitteln für den Katastrophenfall wie von einem anderen Stern. Wir waren es ein Leben lang gewohnt, Tag und Nacht auf ein übergroßes Sortiment an Lebensmitteln zugreifen zu können.

In den ersten Wochen der Pandemie setzte vor allem das Verhalten der Verbraucher, später dann das Schließen der (innereuropäischen) Grenzen das Ernährungssystem unter Stress. Obwohl Italien gezeigt hat, dass dort die Lebensmittelversorgung auch in der Krise funktioniert hat, führten die Bilder der hamsternden Italiener selbst in Deutschland zur verstärkten Vorratshaltung. Die vorübergehend leeren Regale waren lästig, aber kein wirkliches Versorgungsproblem. Den größeren Stress verursachte ab April der politische Reflex die nationalen Grenzen zu schließen. Grenzen halten keinen Virus auf – vor allem wenn er (wie zum Zeitpunkt der deutschen Grenzschließungen) schon auf breiter Front angekommen ist. Grenzschließungen aber stören den Fluss von Waren und Arbeitskräften. Der starke Anstieg der Preise für Gemüse ist besonders auf den europaweiten Mangel an osteuropäischen Erntehelfern zurückzuführen.

In der Diskussion um die politischen Lehren aus der Corona-Pandemie zeigt sich im Moment in allen möglichen Themen besonders, dass die Akteure wenige neue Einsichten zeigen, sondern alte Positionen als Schlussfolgerungen aus der aktuellen Krise präsentieren. Unabhängig von politischen Positionen sollten zwei Schlüsse aus der Krise sein:

  1. Auswirkungen von (schleichenden) Naturkatastrophen können dramatisch sein und unsere Gesellschaft in Frage stellen. Je früher in eine auf eine Katastrophe zulaufende Entwicklung eingegriffen wird, umso mildere Maßnahmen reichen aus. Anders als in der aktuellen Pandemie gibt es in der globalen Klimakatastrophe keine Hoffnung auf einen problemlösenden Impfstoff oder ein Medikament. Es bleibt also nur ein möglichst schnelles Eingreifen.
  2. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass unser Ernährungssystem robust ist – aber sie haben eben auch gezeigt, dass auch in westlichen Ländern im 21. Jahrhundert eine funktionierende Lebensmittelversorgung nicht selbstverständlich sein darf. Die Resilienz von Ernährungssystemen muss in der Diskussion um die zukünftige Agrar- und Ernährungspolitik einen größeren Stellenwert einnehmen – gerade im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe.
Corona und kommuale Ernährungspolitik
Leere Regale

4 Handlungsfelder für die Post-Corona-Ernährungspolitik

Aus der Corona-Krise lassen sich zahlreiche Lehren für die Agrar- und Ernährungspolitik ziehen. Dabei stechen besonders vier hervor, die für die kommunale Ernährungspolitik in Post-Corona größere Relevanz bekommen müssen:

  • Resilienz in den Fokus: Das Ernährungssystem muss vielfältiger werden – vom Acker über das Angebot im Supermarktregal bis zu den wirtschaftlichen Strukturen. Monokulturen und Monopole machen anfällig für Störungen.
    • Die Förderung ökologischer Landwirtschaft in der Region trägt dazu in vielfacher Weise bei: Sie unterstützt die Biodiversität auf dem Acker, ermöglicht/erfordert vielfältigere Kulturen und ergänzt nationale, europäische und globale Warenströme. Städte können auf ihren eigenen Flächen Ökolandbau vorschreiben, in der Gemeinschaftsverpflegung Bio einsetzen, regionale und lokale Handelsstrukturen unterstützen.
    • Der Ausbau von kleinstrukturiertem unabhängigem Handel und handwerklicher Verarbeitung setzt der starken Konzentration der Konzerne in Handel und Industrie lokale Alternativen entgegen. Städte und Kommunen können diese resilienteren Strukturen unterstützen, indem sie sie von der oft blockierenden Bürokratie entlasten sowie die Berufe für Nachfolger attraktiver machen, z.B. durch bessere Ausbildungen und Imagekampagnen.
    • Die Unterstützung von kurzen (regionalen) Lieferketten ist nicht nur aus Resilienzgründen eine notwendige Alternative zu langen Lieferketten mit globalen Maßstäben und hochverarbeiteten Produkten. Kommunen können über Beratung und Information die lokalen Akteure verbinden, können deren Absatz in der (Gemeinschafts-) Gastronomie fördern und ihre regionalen Lebensmittel zur lokalen Marke machen.
    • Das Ernährungssystem muss gerechter werden. Eine sichere Lebensmittelversorgung erfordert auch, dass nicht nur einige wenige an ihr verdienen, sondern das vom Landarbeiter über den Landwirt und Handwerker bis zum Händler alle auf einer wirtschaftlich robusten Basis arbeiten können. Dies müssen Kommunen bei ihren Maßnahmen im Hinterkopf behalten: Billige Lebensmittel haben neben gesundheitlichen und umweltschädlichen auch soziale Nebenwirkungen.
  • Ernährungsarmut nicht mehr ignorieren: Die sozialen Aspekte der Lebensmitelversorgung auf Konsumentenseite müssen deutlich stärker in den Fokus genommen werden und alle Einwohner müssen in die Lage versetzt werden sich ausreichend mit guten Lebensmitteln zu versorgen. Die Corona-Krise betrifft vor allem die Ernährung finanziell schwächer aufgestellter Haushalte: Die Lebensmittelpreise steigen, die Tafeln können nur eingeschränkt arbeiten und das Schulessen fiel weg. Dass einkommensschwache Haushalte schon in „normalen Zeiten“ auf wohltätige Organsiationen angewiesen sind, ist alles andere als krisensicher. Die sozialen Sicherungssysteme liegen nicht im Einflussbereich der Kommunen, aber sie können Ernährungsbildung zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Bildungs- und Sozialarbeit machen um Benachteiligungen vorzubeugen und auszugleichen.
  • Gesunde Ernährung hat neue Bedeutung gewonnen: Wir haben uns (fast) daran gewöhnt, dass unser Verhalten und unsere persönlichen Freiheiten von Krankenzahlen und der Auslastung von Intensivbetten abhängt. Die Risikofaktoren für eine schwere Covid-19-Erkrankung sind unter anderen Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine wichtige Ursache für beides ist Übergewicht. Letztlich hängt die Zahl der Toten, schwer Erkrankten und damit auch die Einschränkung der Grundrechte, sowie die Größe der wirtschaftlichen Schäden vom allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung ab. Die Förderung von gesunder Ernährung muss daher auch auf der städtischen Ebene an Bedeutung gewinnen. Neben der oben genannten Bildungs- und Sozialarbeit, können Kommunen gesunde Ernährung in der Gemeinschaftsverpflegung, bei Veranstaltungen aber auch im Stadtraum zur einfachen und ersten Wahl machen.
  • Klimakatastrophe wartet nicht: Und nicht zuletzt ist Ernährung weiter ein wesentlicher Faktor beim Treibhausgasausstoß: Neben der gesunden Ernährung muss also auch die klimafreundliche Landwirtschaft und Ernährung noch stärker in den Fokus rücken.

Mitte Mai scheint sich das Leben in Deutschland vorerst ein Stück weit zu normalisieren: zumindest für Nicht-Eltern fallen die stärksten Einschränkungen weg. Die wirtschaftlichen Prognosen werden dagegen von Woche zu Woche düsterer, die Summen, welche die öffentliche Hand ausgibt, um die größten Schäden möglichst zu verhindern, von Tag zu Tag größer. Es bleibt zu hoffen, dass Deutschland nicht einmal wieder versucht, in der Agrar-, Ernährungspolitik und anderswo, das aufrecht zu erhalten, was im 20. Jahrhundert erfolgreich war, eine Rechtfertigung hatte oder irgendwie funktioniert hat. Der Corona-Einschnitt und die vielen Investitionen müssen dafür genutzt werden, eine Basis dafür zu legen, was im 21. Jahrhundert notwendig, erfolgreich und sinnvoll sein wird.

Covid 19 Food System
Verwaister Einkaufswagen

Photocredit: Empty Grocery Shelves + Wait Your Turn Here + Empty Grocery Shelves + Shopping Center  // Travis Wise // CC BY 2.0