Dass Städte auf eine lokale – und teilweise öffentlich betriebene – Infrastruktur für die Lebensmittelversorgung angewiesen waren, ist noch nicht so lange her. Heute wird dagegen sogar diskutiert, ob nicht die letzte an die Stadt gebundene Komponente des Ernährungssystems – der stationäre Lebensmittel-Einzelhandel – über kurz oder lang mobil wird. Bis zur Industrialisierung war die Lebensmittelversorgung eine herausragende Aufgabe der Stadtentwicklung. Das ist sie nicht mehr. Die Kommunen haben den Umgang mit der Ernährung verlernt, kommunale Instrumente gibt es nicht mehr.

Beachte Sie auch Teil 1 „Faszination Lebensmittel“ und Teil 3 „Die richtigen Maßnahmen“ der Artikelreihe zur kommunalen Ernährungspolitik!

Ernährung ist ein Querschnittsthema, das zwischen allen Stühlen der Kommunalpolitik hängt. Die meisten kommunalpolitischen Akteure könnten eigentlich etwas zu ernährungspolitischen Themen beitragen, zuständig fühlt sich aber niemand. Die Herausforderung in den Kommunen ist es, Verantwortlichkeiten und Werkzeuge für das Thema Ernährung zu schaffen. Kommunale Ernährungspolitik und Stadternährungsplanung machen dies: sie üben mit eigenen Institutionen und Instrumenten, räumlichen wie programmatischen Maßnahmen einen gezielten Einfluss auf das Ernährungssystem aus.

  • Lebensqualität der Bürger sichern und erhöhen
  • Qualität städtischer Räume verbessern
  • wirtschaftliche Entwicklung der Stadt fördern
  • Die Umweltauswirkungen städtischer Lebensweisen minimieren

Institutionen der kommunalen Ernährungspolitik

Kommunale Ernährungspolitik braucht jemanden, der sich für sie verantwortlich fühlt.

  • In den verschiedenen Politik- und Verwaltungsbereichen muss Ernährung auf die Agenda gesetzt und gehalten werden. Das macht intensive Überzeugungs- und Lobbyarbeit notwendig.
  • Die ernährungspolitischen Aktivitäten müssen koordiniert und beworben werden.
  • Um die verschiedenen Akteure zu vernetzen, braucht es einen Knotenpunkt.
  • Für die strategische Entwicklung der Ernährungspolitik in der Kommune braucht es einen Thinktank.

Die Literatur nennt im Wesentlichen drei Arten eine ernährungspolitische Institution aufzubauen, die (westliche) Praxis kennt zwei. Denkbar sind meiner Meinung nach viele weitere: Denn eine Struktur, die nicht optimal an die lokalen Gegebenheiten angepasst ist, hilft niemandem.

Das Ernährungsamt ist eine Idee aus der Literatur  – es gibt zumindest in der westlichen Welt keine Entsprechung. Bella Horizonte (Brasilien) hat bereits in den 1990er-Jahren im Kampf gegen die Ernährungsarmut auf kommunale Ernährungspolitik gesetzt. Verbunden mit ihrem sehr innovativen und erfolgreichen lokalen Ansatz haben sie das heutige Secretaria Municipal Adjunta de Segurança Alimentar e Nutriciona (Kommunales Sekretariat für Ernährungssicherheit) geschaffen und die Hungerprobleme in der Stadt deutlich minimiert.

Street Food

Ernährungskoordinatoren haben sich in verschiedenen Städten bewährt. New York, ebenfalls eine Stadt mit langer ernährungspolitischer Erfahrung, hat beispielsweise eine Direktorin für Ernährungspolitik:

„Das Büro des Direktors für Ernährungspolitik arbeitet daran, die Bemühungen der Stadt zur Verbesserung der Ernährungssicherheit voranzutreiben, den Zugang und das Bewusstsein für gesunde Lebensmittel zu fördern und wirtschaftliche Chancen und ökologische Nachhaltigkeit im Ernährungssystem zu unterstützen. Um dies zu tun, koordiniert das Büro mehrere City-Agenturen und Büros, die an Lebensmittelprogrammen oder -richtlinien arbeiten, sowie Partner mit den vielen Befürwortern und gemeinnützigen Organisationen, die im Lebensmittelbereich arbeiten. Das Büro beruft auch die Food Policy Task Force ein, die sich aus Vertretern mehrerer städtischer Behörden und des Stadtrates zusammensetzt.“

Die Institution, die aktuell in Deutschland einen kleinen Boom erfährt, ist der Ernährungsrat. Ernährungsräte sind die wichtigsten Unterstützer für einen holistischen Ansatz in der Ernährungspolitik. Die Idee dieser Organisationen ist es, die Akteure des Ernährungssystems in einem kooperativen Gremium an einen Tisch zu holen.

Seit Ende 2015 werden immer mehr Ernährungsräte in Deutschland gegründet. Diese deutsche Entwicklung der letzten 3 Jahre ist europaweit einmalig. Das freut mich – nach jahrelangem „Campaining“ u.a. über die Speiseräume – sehr!  Die Räte haben es nicht nur geschafft das Thema der kommunalen Ernährungspolitik ein gutes Stück höher auf der Agenda zu rücken, sondern auch konkret Einfluss in den Kommunen zu entwickeln.

Die meisten der bestehenden Ernährungsräte bleiben zivilgesellschaftliche Organisationen: einige bekommen finanzielle Förderung der Stadt, nur wenige arbeiten formell mit der Stadt zusammen. Eine kommunale Institution, wie oben beschrieben, können sie so meiner Meinung nach allerdings in der Regel nicht ersetzen. Hier sind Ernährungsräte notwendig, die unter kommunaler Beteiligung arbeiten, wie dies unter anderem in Köln und Brighton geschieht. London geht mit seinem Food Board noch einen anderen Weg: Die Stadt haben sich ein Beratungsgremium mit Experten aus Wissenschaft und Verbänden geschaffen.

Instrumente der kommunalen Ernährungspolitik

Kommunale Ernährungspolitik braucht Instrumente, um Ernährung auf die kommunale Agenda zu setzen, Ziele zu entwickeln und Maßnahmen umzusetzen. In der Theorie sind dabei drei Ansätze möglich:

  1. Ernährung kann als Querschnittsthema in allen Politikbereichen unabhängig voneinander berücksichtigt werden,
  2. sie kann als eigenständiges Thema in übergreifenden Planungen berücksichtigt werden und
  3. sie kann in eigenständigen Ernährungsprogrammen abgehandelt werden.

Der Versuch, Ernährung nicht mehr zu ignorieren, aber weiterhin als unkoordiniertes Querschnittsthema zu behandeln, funktioniert nicht wirklich. Ansätze zur Ernährungspolitik dürften so schnell unter die Räder kommen: Das Querschnittsthema Ernährung erfordert die separate Überzeugung und Motivation von vielen Akteuren, ohne dafür eine Gesamtvision nutzen zu können.

Der zweite Ansatz integriert die Ernährung in die Stadtentwicklungsplanung. 2007 betonte die „Leipziger Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ die Notwendigkeit von „mehr ganzheitliche[n] Strategien und abgestimmte[m] Handeln aller am Prozess der Stadtentwicklung beteiligten Personen und Institutionen.“ Die „Integrierte Stadtentwicklung“ geht darauf aufbauend den Stadtentwicklungsprozess nicht sektoral an, sondern betrachtet Siedlungsstruktur, Verkehr, soziale Belange und Umwelt im Zusammenhang. Ein Thema, welches in dieses informelle Planungsinstrument nicht integriert ist, ist die Ernährung. Ein blinder Fleck, der, so hoffe ich, in einigen Jahren beseitigt ist und dann in der Rückschau außerordentlich absurd erscheinen wird.

Currywrst

Der Kasten zeigt die von mir leicht ergänzten Headlines der Berlin-Strategie: Im Original fehlt die Ernährung noch. San Fransico (1997), Toronto (2010), New York (2007), Chigago (2010) und London (2011) sind Beispiele für Städte, die die Ernährung in ihre Stadtentwicklungsplanung integriert haben.

  1. Wirtschaft mit smartem Wissen stärken
  2. Mit Kreativität Kräfte freisetzen
  3. Bildung und Qualifizierung sichern Arbeit
  4. Die Vielfalt der Quartiere stärken
  5. Wo Stadt und Grün gemeinsam wachsen
  6. Die Weichen zur klimagerechten Metropole stellen
  7. Erreichbarkeit und stadtverträgliche Mobilität ausbauen
  8. Lebensmittelversorgung nachhaltig, resilient & gesund gestalten
  9. Gemeinsam Zukunft gestalten

Eigenständige Ernährungsstrategien haben sich in vielen kommunalen Ernährungspolitiken als das Mittel der Wahl herausgestellt. Sie betrachten die Kommunalpolitik und die Stadtentwicklung aus der Ernährungsperspektive. Sie arbeiten Stärken, Schwächen und Potenziale der Ernährung heraus; sie zeigen Handlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten auf. Die Ernährungsstrategien können so deutlich machen, welche Bedeutung Ernährung für die Stadt hat, wo Ernährung Stadtentwicklung einschränkt und wo Ernährung als Instrument für Stadtentwicklung genutzt werden kann. Der Erstellungsprozess kann und sollte zur intensiven Zusammenarbeit mit den einzelnen Fachpolitiken und -planungen genutzt werden, um für die Phase der Umsetzung Verbündete zu gewinnen.

Unter das Schlagwort „Eigenständige Ernährungsstrategien“ sollen hier Ernährungschartas, Maßnahmenpläne und die eigentlichen Ernährungsstrategien zusammengefasst werden.

Die Ernährungscharta ist dabei weniger eine Strategie, sondern ein Leitbild. Sie beschreibt eine Vision, wie das Ernährungssystem in der Zukunft aussehen soll und wie es die Stadt beeinflussen soll. Oft werden Prinzipien und Prioritäten festgelegt. Bristol hat beispielsweise eine Good Food Charta. Der Kasten zeigt einen übersetzten Auszug aus der Vision des Good Food Plan von Bristol.

Stell Dir vor, Du lebst in einer wahrhaft nachhaltigen Food City, die bekannt ist für die Lebendigkeit und Vielfältigkeit ihrer Ernährungskultur und für ein Ernährungssystem, das vom Feld bis zur Gabel gut ist für die Menschen, die Region und den Planeten.

Eine Stadt, in der gutes Essen sichtbar ist und an jeder Ecke zelebriert wird und in der jeder, unabhängig von seinem Wohnort, Zugang zu frischen, saisonalen, regionalen, ökologischen und fair gehandelten Lebensmitteln hat, die zudem noch gesund und bezahlbar sind.

Andere Städte, die Leitbilder für ihr Ernährungssystem entwickelt haben, sind beispielsweise Toronto (2001), Vancouver (2007), New York (2009), Minnesota (2013), Oxford (2014), Birmingham (2014) und Newcastle (2015).

Maßnahmenpläne (Food Action Plans) haben den Charakter von Arbeitsdokumenten. Oft sind es große, eher unübersichtliche Excel-Tabellen. In den Maßnahmenplänen wird keine Bestandsaufnahme dargestellt, sie enthalten keine Begründung, sie konzentrieren sich auf das, was getan werden soll. Maßnahmenpläne haben eher kurze Laufzeiten. Diese Dokumente sind weniger für die Öffentlichkeitsarbeit gedacht. Edinburgh fällt da mit seinem Sustainable Food City Plan etwas aus dem Rahmen: Dieser Maßnahmenplan ist nicht nur alles andere als eine graue Tabelle, er beschreibt auch weniger Maßnahmen der Ernährungspolitik, als den Weg, wie sich die Stadt eine Ernährungspolitik erarbeiten will. Durchaus geschickt, finde ich.

Die eigentlichen Ernährungsstrategien beinhalten Visionen und Maßnahmenpläne – und darüber hinaus noch eine Bestandsaufnahme, Fallstudien und Kriterien für die Evaluation. Die Pläne haben eher eine längere Laufzeit und werden zum Teil durch kurzfristigere Maßnahmenpläne fortgeschrieben. Städte, die sich Ernährungsstrategien erarbeitet haben, sind beispielsweise Vancouver (2013), New York (2010), Los Angeles (2010), Greater Phildaelphia (2011), London (2006), Brighton (2006/2012), Manchester (2007), Amsterdam: (2013), Rotterdam: (2011) und Pisa (2010).

Kommunale Ernährungspolitik [2/3]: die richtigen Werkzeuge

Dass Städte auf eine lokale – und teilweise öffentlich betriebene – Infrastruktur für die Lebensmittelversorgung angewiesen waren, ist noch nicht so lange her. Heute wird dagegen sogar diskutiert, ob nicht…

Kommunale Ernährungspolitik [1/3]: Faszination Lebensmittel

Ernährung gehört zur Stadt, Ernährung gehört in die Stadtpolitik! Diese Auffassung setzt sich langsam durch. Ernährung hat in der Vergangenheit und wird in der Zukunft unsere Städte maßgeblich mitgestalten. Sie…

Kommunale Ernährungspolitik [3/3]: die richtigen Maßnahmen

Unterstützen, ermöglichen und vernetzen ‒ das sind die Schlagworte, mit denen ich kommunale Ernährungspolitik zusammenfasse. Es sind diese fördernden Maßnahmen, welche die Idee der Ernährungspolitik auf der lokalen Ebene über…

 

Photocredit: Chef Break // Christer // CC BY-NC-ND 2.0 Food Cart Views // TM Images PDX // CC BY-NC-ND 2.0 Scharfmacher // Sascha Kohlmann // CC BY-SA 2.0

Literatur
Donovan, Jenny; Larsen, Kirsten; McWhinnie, Julie-Anne (2011): Food-sensitive planning and urban design. A conceptual framework for achieving a sustainable and healthy food system. Melbourne.
Hawkes, Corinna; Hallida, Jess (2017): What makes urban food policy happen? Insights from five case studies. IPES-Food. Brüssel.
Ilieva, Rositsa T. (2016): Urban Food Planning. Seeds of Transition in the Global North. Milton: Taylor and Francis (Routledge Studies in Food, Society and the Environment).
La Salle, Janine M. de; Holland, Mark (Hg.) (2010): Agricultural urbanism. Handbook for building sustainable food & agriculture systems in 21st century cities. 1. Aufl. Winnipeg, Manitoba: Green Frigate Books.
Pothukuchi, Kameshwari; Kaufman, Jerome L. (1999): Placing the food system on the urban agenda. The role of municipal institutions in food systems planning. In: Agriculture and Human Values (16), S. 213–224.
Stierand, Philipp (2012): Food Policy Councils. recovering the local level in food policy. In: André M. Viljoen und Johannes S.C Wiskerke (Hg.): Sustainable food planning. Evolving theory and practice. Wageningen: Wageningen Academic Pub, S. 65–75.
Stierand, Philipp (2014): Speiseräume. Die Ernährungswende beginnt in der Stadt. München: oekom.