Ernährung gehört zur Stadt, Ernährung gehört in die Stadtpolitik! Diese Auffassung setzt sich langsam durch. Ernährung hat in der Vergangenheit und wird in der Zukunft unsere Städte maßgeblich mitgestalten. Sie ist für viele Herausforderungen und kulturelle Errungenschaften unserer Zivilisation verantwortlich – beides grundlegend geprägt von Städten. Im Rückblick scheint es fast absurd, dass wir die Lebensmittelversorgung jahrzehntelang aus der Stadtentwicklung ausgeblendet haben.
Hier entsteht ein Speiseräume-Plädoyer für kommunale Ernährungspolitik und Stadternährungsplanung in drei Teilen. Es zeigt wieso Ernährung elementarerer Bestandteil lokaler Politik sein muss und wie das aussehen kann. In diesem ersten Teil beschäftige ich mich mit der Entwicklungsgeschichte der Ernährungspolitik in Deutschland und der dafür notwendigen neuen Perspektive. Im zweite Teil berichte ich über mögliche Institutionen und Instrumente der kommunalen Ernährungspolitik. Der dritte Teil beschäftigt sich abschließend mit den Maßnahmen der Ernährungspolitik auf der lokalen Ebene.
Neue Ernährungsbewegung
Die Ursprünge von Speiseräume liegen gut 16 Jahre zurück. Damals bin ich als studierter Raumplaner in der Biobranche gelandet – und habe mich in der Folge auf die Suche nach der Verbindung der Themen Stadt und Ernährung gemacht. Die Idee zu dieser Suche entstand nicht aus dem Ärger über Probleme, die unsere Lebensmittelversorgung verursacht, sondern weil ich so viele beeindruckende Landwirte und Hersteller kennen gelernt hatte und großartige Lebensmittel erleben durfte. Diese Kraft muss man doch für die Stadtentwicklung nutzen können! Meine ersten Recherchen im Jahr 2003 in einer ungenannt bleibend wollenden Uni-Bibliothek zeigten, dieses Thema interessiert wirklich niemanden. Die ersten Gespräche mit Planungs-Wissenschaftlern endeten mit Kopfschütteln auf beiden Seiten. Das blieb zum Glück nicht so: Der richtige Professor wurde gefunden, in den USA entstanden erste Forschungsansätze und in den Speiseräumen eine Diss. Seitdem hat sich die Wahrnehmung von Stadt und Ernährung grundsätzlich gewandelt. Geblieben ist der Speiseräume-Ansatz, der Ernährung in erster Linie als Faszination und nicht als Problem sieht.

Mit einem ähnlichen Ansatz entwickelt sich seit einigen Jahren in Deutschland eine zivilgesellschaftliche Bewegung: die neue Ernährungsbewegung. Ihr Ursprung liegt bei den Verbrauchern, ihrer Unzufriedenheit mit der herrschenden Lebensmittelversorgung und der Suche nach Alternativen. Die Toleranz gegenüber einem Ernährungssystem, das Lebensgrundlagen zerstört, Gesundheit schädigt und Menschen ausbeutet, sinkt. Nachdem das grundsätzliche Bedürfnis, die Bekämpfung des Hungers, erfüllt ist, soll das Ernährungssystem auch weitergehende Bedürfnisse erfüllen. Zu diesen New Urban Food Needs gehören Vertrauen in die Lebensmittelversorgung, ökologische Erwartungen, gesundheitliche Ansprüche und Fairness gegenüber den Erzeugern.
Der Verbraucher verlässt auf der Suche nach Erfüllung dieser neuen Bedürfnisse seine angestammte Rolle: Überall in Deutschland, Europa und der westlichen Welt entstehen Start-ups die traditionelles Lebensmittelhandwerk neu definieren. Die Zahl der Projekte, die mit neuen Formen der Landwirtschaft von vegan bis solidarisch experimentieren, ist geradezu explodiert. Die Konsumenten gärtnern und bauen an, sie wursten, backen und brauen. Sie übernehmen Aufgaben von Erzeugern und Verarbeitern; sie schaffen die Voraussetzungen zur Erfüllung ihrer New Urban Food Needs selbst. So wird die Stadt zur Werkstatt für das zukünftige Ernährungssystem. Die Lebensmittelversorgung wird auf diese Ideen angewiesen sein um zukunftsfähiger und nachhaltiger zu werden. Und auch die Stadt selbst braucht diese Ideen um lebenswerter und ressourcenschonender zu werden.
Durchbruch der kommunalen Ernährungspolitik
Die Entwicklungsgeschichte der lokalen Ernährungspolitik in Deutschland beginnt, wie in den meisten westlichen Ländern, mit einem Fokus auf die urbane Landwirtschaft. Mit den Internationalen Gärten in Göttingen gründete sich Mitte der 1990er Jahre einer der ersten deutschen Gemeinschaftsgärten. Den bisherigen Höhepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung erreicht das urbane Gärtnern Anfang der 2010er Jahre, begleitet von der Veröffentlichung des Sammelbandes „Urban Gardening“.

Gärten wie der Prinzessinengarten waren in den Medien dauerpräsent und halfen die Idee des städtischen Gärtnerns in neuen Formen in Deutschland bekannt zu machen. In dieser Zeit begann auch ein Perspektivwechsel der Gärten und Landwirtschaft in einen größeren Ernährungszusammenhang einordnete. In Berlin begannen 2012 die ersten Akteure mit Erkundungen über die Möglichkeiten von lokaler Ernährungspolitik . Die Ausstellung „Hungry Cities“ war der Rahmen für erste Veranstaltungen (und für meinen ersten öffentlichen Vortrag zum Thema). Für die zivilgesellschaftliche Diskussion waren die Gründungen der Ernährungsräte in Köln und Berlin der Durchbruch. Sie waren der Beginn einer Gründungswelle von (zivilgesellschaftlichen) Ernährungsräten, die bis heute anhält und es so in keinem anderen europäischen Land gibt.
Ein Meilenstein für die kommunale Politik und Verwaltung war der Mailänder Urban Food Policy Pact, den neben rund 100 anderen Städten 2015 auch die deutschen Städte Berlin, Köln und Frankfurt unterzeichneten. Die Kommunen verpflichten sich nachhaltige Ernährungssysteme zu entwickeln. Sie wollen die Belange der kommunalen Ernährungspolitik behörden- und themenübergreifend in anderen kommunalpolitischen Feldern integrieren. Sie wollen die Akteure des Ernährungssystems in diese Politik einbeziehen.
In Februar 2018 endete der Kongress der Biostädte mit der Feststellung: „Die Zeit ist reif für eine kommunale Ernährungspolitik!“ Dies könnte – nachdem Deutschland hier eine internationale Entwicklung lange verschlafen hat – ein Durchbruch für die kommunale Ernährungspolitik gewesen sein.
Abschluss-Statement, Kongress des Netzwerks der Biostädte: Die Zeit ist reif für eine kommunale Ernährungspolitik. #StadtLandBio pic.twitter.com/MmKcP7JExz
— Philipp Stierand (@speiseraeume) 16. Februar 2018
Perspektive Ernährungssystem
Die Beziehung von regionalen Lebensmitteln und Konsum wird durch zwei Paradoxien bestimmt. 1. Paradox: Auch wenn Regionalität in den Verbraucherumfragen das entscheidende Kaufmerkmal für Lebensmittel zu sein scheint, sind regionale Lebensmittel im Kaufverhalten und im Lebensmittelmarkt eine absolute Randerscheinung. 2. Paradox: Verbraucher (und oft auch die politische Diskussion) sehen im Kauf von regionalen Lebensmittel ökologische Vorteile. Wissenschaftliche Untersuchungen widerlegen das.
Vor zwölf Jahren beschrieb ein Aufsatz die pauschale Bevorzugung regionaler Lebensmittel als regionale Falle. Auch heute laufen noch viele lokalen ernährungspolitischen Diskussionen in diese Sackgasse.

Unsere Lebensmittelversorgung ist nicht auf der lokalen Ebene organisiert, sondern das Ernährungssystem arbeitet im nationalen bis globalen Zusammenhang. Der Landwirt produziert für den Weltmarkt. Verarbeiter kaufen global ein und verkaufen (mindestens) national. Der Einzelhandel wird durch überegionale Logistikkonzepte mit globalen Waren versorgt. Das führt in der ernährungspolitischen Arbeit in den Kommunen zu einem grundsätzlichen Problem: unsere Lebensmittelversorgung ist gar nicht davon abhängig, dass es lokalen Anbau oder Austausch gibt. Die Akteure, die für die Lebensmittelversorgung unserer Stadt entscheidend sind, haben unsere Region wahrscheinlich noch nie betreten. Der kommunalen Ernährungspolitik fehlen daher Ansatzpunkte für Einfluss und Akteure mit denen man sprechen könnte.
Die meiner Meinung nach falsche Schlussfolgerung aus diesem grundlegenden Problem ist der Versuch die gesamte Lebensmittelversorgung zu regionalisieren. Das wäre ökologisch nicht vorteilhaft, aus Sicht der Versorgungssicherheit eine Katastrophe und wegen starker Einschränkungen im Angebot kaum durchsetzbar. Die schlauere Lösung ist eine ganzheitliche Herangehensweise, die möglichst in allen Bereichen von Landwirtschaft über Verarbeitung Handel und Konsum bis Entsorgung ansetzt. Eine solche Ernährungspolitik schafft im Regionalen möglichst gute Bedingungen für ein alternatives Ernährungssystem, beschränkt sich aber nicht auf die regionale Perspektive. Die Devise ist erleichtern, unterstützen und möglich machen von positiven Ansätzen im Ernährungssystem. Regionale Lebensmittel sind nicht das Ziel der kommunalen Ernährungspolitik, sondern eines ihrer vielen Instrumenten um ein nachhaltige, faire und gesunde Lebensmittelversorgung zu erreichen.
Dieser ganzheitliche Ansatz führt zu einem neuen Blickwinkel. Das ist mir besonders durch die Vorträge und Bücher von Wayne Roberts bewusst geworden. Reden wir sonst in der Politik von den Problemen der Ernährung, von Artenschwund, Klimawandel, Fettsucht und anderen Grausamkeiten, geht es jetzt dann auch um Jobs, Kultur, Vielfalt und Genuss. Die Sicht wandelt sich von einer problemorientierten zu einer chancenorientierten. Das Ziel einer städtischen Ernährungspolitik ist dann nicht mehr ausschließlich Ernährung zu optimieren, sondern mit der Ernährung als kraftvolles Instrument Stadtentwicklung zu verbessern. Denn Lebensmittel, Ernährung, Landwirtschaft und Lebensmittelhandwerk sind im Grundsatz auch für die Stadt kein Problem, sondern faszinierende und kraftvolle Lebens- und Entwicklungsgrundlage. Was dann auch den Kreis zu dem Beginn meiner persönlichen Auseinandersetzung mit Stadt und Ernährung schließt.
Photocredit: Bread b/wBread1 Bread2 // Benc Chen // CC BY-NC-ND 2.0 Historische Entwicklung Ernährungspolitik // Philipp Stierand // Alle Rechte vorbehalten