Rund 40 % des EU-Haushaltes gehen in die Agrarsubventionen, die in Deutschland rund 40 % der Einkommen der Landwirte ausmachen. Da sind die politischen Einflussmöglichkeiten eigentlich riesig… Doch die Europäische Agrarpolitik gibt keine ausreichenden Antworten auf die großen Herausforderungen des Höfesterbens, der Klimaanpassung, des Klima-, Umwelt- und Tierschutzes. Ein koordiniertes Vorgehen in den so eng zusammenhängenden Feldern von Agrar- und Ernährungspolitik wird noch nicht einmal diskutiert. Als einen Vorschlag, die festgefahrene Situation zu lösen, wurde jetzt in Brüssel der Bericht „Towards a Common Food Policy for the European Union: The Policy Reform and Realignment that ist required to buld sustainable Food Systems in Europe“ vorgelegt.

Autor dieses ambitionierten Konzepts ist IPES-Food. Die Organisation ist ein Experten-Panel, das sich unter der Leitung von Olivier de Schutter (UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, 2008-1014) für nachhaltige Ernährungssysteme einsetzt. In einem dreijährigen Prozess haben sie unter Einbezug von Experten und Akteuren aus ganz Europa in verschiedenen Workshops und Konferenzen den Entwurf für eine gemeinsame Europäische Ernährungspolitik entworfen. Speiseräume fasst hier die wichtigsten Thesen des Berichts zusammen. Die Experten sehen vier wesentliche Gründe, die eine gemeinsame Ernährungspolitik in Europa notwendig machen.

1. Abstimmung der verschiedenen Politikfelder
Auf die Ernährung haben die verschiedensten Politikbereiche der EU Auswirkungen. Landwirtschaft, Handel, Lebensmittelsicherheit, Umwelt, Entwicklung, Forschung, Bildung, Steuer- und Sozialpolitik, Marktregulierung, Wettbewerb und viele andere Politikbereiche haben darauf Einfluss wie wir uns ernähren, wer unsere Lebensmittel wie handelt und produziert. Diese Politiken widersprechen sich heute in wesentlichen Punkten: So werden Programme gegen Übergewicht entwickelt während die Agrarhandelspolitik dafür sorgt, dass billiges Junkfood im Überfluss vorhanden ist. Die EU hat sich mit dem Pariser Abkommen dem Klimaschutz verpflichtet während über die Handelspolitik Exporte von klimaintensiven Molkerei- und Fleisch-Produkten begünstigt werden. Um nur zwei von vielen Beispielen zu nennen.

2. Förderung lokaler Initiativen
Auf der lokalen Ebene entstehen überall in der EU soziale Innovationen und Experimente von solidarischer Landwirtschaft bis zu Ernährungräten und Ernährungsstrategien. Diese zeigen Wege zu einer nachhaltigeren Lebensmittelversorgung und zur Stärkung von demokratischen Prozessen, von Verantwortung innerhalb und Vertrauen in die Ernährungssysteme auf. Weder Europa noch die verschiedenen Nationalstaaten unterstützen heute diese Prozesse maßgeblich. Eine europäische Ernährungspolitik muss ihren Fokus von der Regulierung der Märkte und Subventionierung der Landwirtschaft auf die Förderung lokaler Initiativen und Unterstützung der verschiedenen Experimente ausweiten.

3. Überwinden von kurzfristigem Denken und Pfadabhängigkeiten
Die Politik passt sich aktuell zu langsam an die Herausforderungen von Klimakrise, Schwund der Biodiversität, globaler Hunger und Armut an. Die Agrarpolitik hält beispielsweise an der Massen-Produktion von billigen Kalorien fest, ungeachtet steigender externen Kosten. Für die Transformation der Ernährungssysteme braucht es einen neuen Governance-Rahmen: eine integrierte Ernährungspolitik, die mit einer langfristigen Vision das gesamte Ernährungssystem umgestaltet.

4. Demokratisierung europäischer Politik
Die fragmentierte europäische Ernährungspolitik wird maßgeblich beeinflusst von der Agrarindustrie, landwirtschaftlichen Interessenverbänden, der EU-Generaldirektion Landwirtschaft und dem Landwirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments. Eine Ausrichtung auf eine integrierte Ernährungspolitik kann demokratischen Defizite ausgleichen und die Kräfte neu ausbalancieren. Der Blick auf Ernährung und nicht nur auf Landwirtschaft erweitert die am Entscheidungsprozess beteiligten Akteure und stellt bisherige Kräfteverhältnisse und Pfadabhängigkeiten in Frage.

Der IPES-Bericht fordert kurzfristige Strukturänderungen in Politik und Verwaltung um die Reformen in den entscheidenden Politikbereichen voranzutreiben.

  • Neue Position des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission für nachhaltige Ernährungssysteme schaffen
  • Neue Position des „Head of Food“ in jeder GD der Kommission zum Sicherstellen sektorübergreifender Zusammenarbeit
  • Task-Force für nachhaltige Lebensmittel unter dem Europäischen Zentrum für politische Strategie (EPSC) einrichten
  • Formelle Intergruppe für Lebensmittel im Europäischen Parlament einrichten
  • Schaffung eines EU-Rates für Ernährungspolitik
  • Mechanismen für systematische Koordinierung, Praktizieren des Austauschens und Lernens auf EU-Ebene bezüglich lokaler/territorialer Lebensmittelinitiativen (einschl. urbaner und regionaler Lebensmittelpolitiken)

Der Bericht „Towards a Common Food Policy for the EU“ beschränkt sich nicht auf Vorschläge für Struktreformen sondern nennt auch fünf große inhaltliche Ziele, die alle mit konkreten Maßnahmen untermauert werden.

  1. Sicherung des Zugangs zu Land, zu Wasser und gesunden Böden
    Der nachhaltigen Erzeugung von Lebensmitteln muss der Zugang zu Boden ermöglicht werden. IPES fordert beispielsweise Vorkaufsrechte für junge Öko-Landwirte und eine europäische Bodenschutzrichtlinie.
  2. Schaffung von klima-resilienten, gesunden Agrar-Ökosystemen
    Die verschiedenen europäischen und nationalen Politiken müssen auf die Förderung von vielfältigen low-input Agrarökosysteme ausgerichtet werden.
  3. Förderung von ausreichender, gesunder und nachhaltiger Ernährung für alle
    Für eine gesunde Ernährung müssen Politikbereiche von Stadtplanung bis zur Handelspolitik neu ausgerichtet werden. Billige Lebensmittel dürfen nicht länger Ersatz für Sozialpolitik sein.
  4. Schaffung von faire, kurzen und sauberen Lieferketten
    Die Unterstützung lokaler Innovationen in regionalen Akteurs-Netzwerken muss Bestandteil der EU-Politik werden.
  5. Den Handel in den Dienst der nachhaltigen Entwicklung stellen
    Freihandelsabkommen müssen durch nachhaltige Handelsabkommen ersetzt werden.

Den Report „Towards a Common Food Policy for the EU“ gibt es in einer Langfassung in Englisch und auch in einer Kurzfassung in (leider sehr holprigem) Deutsch auf der IPES-Seite zum Download.

Photocredit: World Environment Day // European Parlament // CC BY-NC-ND 2.0